Paul Widmer, Verfasser des Basiswerks “Diplomatie – Ein Handbuch”, vermutet hinter Andrij Melnyks Äußerungen eher “Kalkül, als einen Ausrutscher”. Das Verhalten des ukrainischen Botschafters entspreche nicht dem “klassischen Verhalten eines Diplomaten”. Zudem werde die Rolle der Diplomatie im aktuellen Ukraine-Krieg zunehmend “sehr schwierig, weil vieles dermaßen in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde.” Ein Gespräch.
Hat Sie das überrascht, als Sie von diesen Äußerungen gehört haben?
Paul Widmer: Ja, ganz sicher. Das ist außergewöhnlich, dass ein Diplomat sich in der Öffentlichkeit so ausdrückt. Aber man muss auch zugestehen, dass die Situation der Ukraine ganz außergewöhnlich ist. Aber dennoch entspricht es nicht dem klassischen Verhalten eines Diplomaten.
Gibt es da ungeschriebene Regeln, was man als Diplomat sagen darf und wie man sich zu verhalten hat?
Widmer: In den letzten Jahren hat sich grundsätzlich sehr viel verändert, vor allem mit dem Aufkommen der sogenannten Public Diplomacy. Früher war die Diplomatie vor allem ein sehr diskretes Geschäft von Regierung zu Regierung. Die Diplomaten berichteten über das Land, vermieden es aber peinlichst, sich in die inneren Angelegenheiten einzumischen. In den letzten Jahrezehnten wurde es aber zunehmend Brauch, dass ein Diplomat in der Öffentlichkeit versucht, die Positionen seines Landes darzulegen und über das Publikum Einfluss zu nehmen auf eine Regierung. Das hat einen ganz anderen Stil hervorgebracht: Diplomaten gehen in Fernsehshows, sie äußern sich in Zeitungen und so weiter. Das hat auch den Stil der Sprache und des Auftretens verändert.
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Was bleibt da auf der Strecke, wenn Diplomaten sich so äußern und in die Fernsehshows gehen?
Widmer: Ich bin der Ansicht, dass es nicht gut ist, denn Diplomatie ist schlussendlich immer noch ein Geschäft von Regierung zu Regierung, und keine Regierung kann der anderen Regeln aufzwingen. Im Völkerrecht ist es so, dass wir nur über die Überzeugung eine Regierung dazu bringen können, dass sie sich an die Rechtslage hält. Schlussendlich wird man auch mit Public Diplomacy nicht drum herum kommen, dass eine Regierung Entscheidungen fällen muss. Und da erweist es sich, dass eine starke, eine übertriebene Sprache hinderlich ist für eine diplomatische Lösung.
Glauben Sie, dass Herr Melnyk in dem aktuellen Fall der Kragen geplatzt ist, weil er in dieser Ausnahmesituation ist? Oder ist es doch Kalkül, um Scholz, um die Bundesregierung ein bisschen aus der Deckung zu locken?
Widmer: Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich das nicht weiß. Aber was ich beobachtet habe, ist, dass seine Äußerungen mehrmals schon nicht den Normen entsprachen. Daher würde ich vermuten, dass es eher ein Kalkül ist als ein Ausrutscher.
Was wäre Ihrer Meinung nach die angemessene Reaktion von deutscher Seite?
Widmer: Wenn ich ein Berater in Deutschland wäre, dann würde ich der Regierung raten, den Botschafter ins Außenministerium einzubestellen und ihm mitzuteilen, dass man, bei aller Wertschätzung, die man für seine Person und für seinen großen Einsatz in Deutschland hat, es begrüße würde, wenn er eine andere Sprache wählen und die diplomatischen Verhandlungen dadurch erleichtern würde.
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Was glauben Sie, wie man das aus Moskau gerade beobachtet, dass Deutschland und die Ukraine gerade so einen Konflikt austragen?
Widmer: Darüber möchte ich nicht spekulieren.
Welche Rolle kann Diplomatie bei der Lösung dieses aktuellen Konflikts überhaupt noch spielen?
Widmer: Es ist sehr schwierig, weil vieles dermaßen in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Diplomatie ist im Prinzip ein vertrauliches Geschäft – auch wenn man das in den letzten Jahren immer weniger so gesehen hat. Jede Diplomatie muss auch eine vertrauliche Komponente haben. Denn am Schluss braucht es wahrscheinlich eine diplomatische Lösung, und dann muss man bedenken, dass alles, was übertrieben wirkt, schlussendlich einen Lösungsversuch erschwert. Fürst Metternich, einer der größten Diplomaten, die es gab, sagte: “Jeder Superlativ ist ein Irrtum.” Der Grundsatz, dass man dem anderen den Weg zu einer Lösung ermöglichen muss, muss beinhalten, dass man nie übertreibt, in dem, was man sagt, sondern immer die Variante wählt, die eine Einigung am leichtesten zutage bringen kann.
Appellieren Sie da an die beiden kriegsbeteiligten Parteien Russland und die Ukraine? Oder auch an Außenstehende, an die Internationale Staatengemeinschaft?
Widmer: Ich denke natürlich insbesondere an die Kriegsparteien. Denn eines Tages gibt es für Kriegsparteien gar nichts anderes, als dass man am Verhandlungstisch einen Kompromiss herausbekommt. Die internationale Ordnung ist so, dass Staaten, wann immer sie können, es ermöglichen sollten, dass ein Übereinkommen gefördert wird. Aber diese Vermittlungen müssen vertraulich eingefädelt werden – und nicht auf dem großen Marktplatz.
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https://www.ndr.de/kultur/Melnyks-beleidigte-Leberwurst-Provokation-Was-darf-Diplomatie,diplomatie142.html
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